Die Sicht durch das zer­bro­che­ne Brillenglas

Aus der Serie “Bril­len unse­rer Beziehung”

Der Bra­ten duf­tet ver­füh­re­risch. Geschirr, Ser­vi­et­ten, Blu­men und das wun­der­schö­ne Tisch­tuch sind farb­lich gut auf­ein­an­der abge­stimmt. Die Glä­ser glän­zen blitz­sauber. Aber der ein­zi­ge Kom­men­tar von Hans ist: “Ach, Susi, du weißt doch, dass die Hubers am liebs­ten Rot­wein trin­ken. Wie­so hast du schon wie­der die Weiß­wein­glä­ser aufgedeckt?“

Hans hat sich extra fein her­aus­ge­putzt. Die Schu­he glän­zen, der Bart ist gestutzt, die Haa­re frisch gewa­schen. Für den fei­er­li­chen Anlass hat er sich in sei­nen bes­ten Anzug gezwängt und sogar Sus­is Lieb­lings­kra­wat­te umge­bun­den. Susi meint: „Also, die Socken pas­sen da sowas von gar nicht! Hast du denn kei­ne anderen?“

Ähn­li­ches haben wir ver­mut­lich alle schon erlebt. Viel­leicht haben wir schon als Kin­der den Ein­druck bekom­men, dass Feh­ler mehr Auf­merk­sam­keit ver­die­nen als posi­ti­ve Leis­tun­gen. Den­ken wir nur an das Meer von rot ange­stri­che­nen Feh­lern im Schul­auf­satz. Und kein Wort über die gute Geschichte!

Aber müs­sen wir die­sen feh­ler­ori­en­tier­ten Denk­stil übernehmen? 

 Hans hät­te auch sagen kön­nen: „Mmmh, Susi, du hast dich wie­der ein­mal selbst über­trof­fen. Wie das duf­tet! Der Tisch sieht wirk­lich künst­le­risch aus – das hat Stil! Aber weißt du was? Die Weiß­wein­glä­ser wür­de ich lie­ber noch gegen Rot­wein­glä­ser aus­tau­schen – ich glau­be, die Hubers trin­ken lie­ber Rot­wein. Ist dir das recht?“

Und Susi hät­te sagen kön­nen: „Hans, ich bin stolz auf dich – du siehst super aus. Dan­ke auch, dass du an mei­ne Lieb­lings­kra­wat­te gedacht hast! Nur die Socken könn­test du noch aus­tau­schen – wenn du willst, suche ich dir ein Paar her­aus, das bes­ser zu den Schu­hen passt, okay?“

Das hät­te aber nur gepasst, wenn es von Her­zen kommt. Solan­ge Feh­ler in Wirk­lich­keit das Ein­zi­ge sind, was uns vor Augen steht und wich­tig ist, klingt jedes Lob unehr­lich. Wir kön­nen viel frü­her anset­zen, näm­lich bei unse­rer Wahrnehmung.

Wenn wir eine zer­bro­che­ne Bril­le auf­ha­ben, zeigt sie uns nur einen klei­nen Teil der Wirk­lich­keit, näm­lich das, was mir nicht gefällt. Wenn ich mei­ne Bril­le repa­rie­re, dann kann ich mei­nen Part­ner und mich wie­der ganz­heit­lich sehen. Ich wer­de unse­re Gemein­sam­kei­ten und Unter­schied­lich­kei­ten als Geschenk wahrnehmen.

Lia­ne